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Da sind zum ersten
außer bei der Hauptperson, der ein falscher Vorname beigegeben wird, die
Namen aller weiteren Personen – darunter ein 15-jähriges Kind – die mit
der Begebenheit in Verbindung standen, vergessen, auch alle genauen
Einzelheiten. Zum zweiten ist die Jahreszahl falsch; die Handlung hat
sich in Wahrheit nahezu ein halbes Jahrhundert früher zugetragen. Und
manches andere. Der genaue Ablauf der Geschehnisse kam ans Licht beim
Studium der Rübenacher Kirchenbücher, wo der damalige Pfarrer, Johannes
Mathias Geisen, zwischen die Sterberegister des Jahres 1815 die
ungeheuerlichen Ereignisse – obwohl sich derlei Berichte über besondere
Geschehnisse in den Kirchenbüchern sehr in Grenzen halten – in behäbigem
Umgangslatain (um nicht zu sgen „Küchenlatain“) unter der Überschrift
„Ad perpetuam rei memoriam“ wie folgt schildert:
Notandum
est hoc loco infortunium horendum, quo praedicti tres ultimi parochiani
morte terribili periere. Vigesima Julii circa horam sextam vepertinam
Lupus rabie infectus, verosimiliter ex silvis ardennis per strepitum
belli atque explosionem tormentorum bellicorum huc expulsus, primo
mulierem ex pago Winningen, dein septem personas ex Güls crudeliter
invasit, eosque gravibus vulneribus affecit. Illuc rediens
appropinquavit nostro pago, atque in via, quae ducit in Winningen, primo
Wilhelmus Mohrs, adolescentem 15 annorum, dein Annam Margaretham Schwab,
viduam 82 annorum, et demum Ludovicum Moskop, patrem 5 puerorum, aetate
vero 49 annorum similiter invasit et miserabiliter vulneravit …
In der Übersetzung,
die der hier beheimatete klassische Philologe Ulrich Zerwas
beisteuerte, lautet der ganze Schriftsatz:
„Zur ewigen Erinnerung an das Geschehen“
An dieser Stelle ist
ein schreckliches Unglück festzuhalten, bei dem die drei letztgenannten
Pfarrkinder eines furchtbaren Todes starben: Am 20 Juli nachmittags um
die sechste Stunde hat ein rasender Wolf, wahrscheinlich aus den
Ardennenwäldern durch Kriegslärm und Geschützdonner hierher vertrieben,
zunächst eine Frau aus dem Dorf Winningen, dann sieben Personen aus dem
Dorf Güls grässlich angefallen und schwer verwundet. Auf dem Rückweg
näherte er sich unserem Dorf und fiel auf der Straße nach Winningen
zunächst der Wilhelm Mohrs, einen 15-jährigen Jungen, dann die Anna
Margaretha Schwab, eine Witwe von 82 Jahren und schließlich den Ludwig
Moskop, einen Vater von fünf Kindern im Alter von 49 Jahren, in
gleicher Weise an und richtete sie schrecklich zu. Anton Simonis, der
dem Ludwig Moskop in seinem Kampf mit der Bestie zu Hilfe kam, hat sie
schließlich getötet. Vier Ärzte wurden sofort aus Koblenz herbeigeholt
und verbanden die Wunden, aber – o Schmerz! – nicht nach den Regeln der
ärztlichen Kunst, weil sie irrtümlich glaubten, das Tier sei nicht von
der Tollwut befallen. Nach drei Tagen wurden Wilh. Mohrs und Anna Marg.
Schwab zunächst mit allen Sterbesakramenten versehen und dann der Pflege
des Koblenzer Krankenhauses anvertraut. Ludwig Moskopp, der ja weniger
verletzt war, blieb in seinem Hause; seine Wunden waren innerhalb 14
Tagen vollständig geschlossen und er selbst schien in seiner Gesundheit
wieder hergestellt.
Am 7. August wurde
mir gemeldet, dass Ludwig Moskopp plötzlich erkrankt sei und mich zu
sprechen wünsche. Kommendes Unheil gleichsam vorausahnend, habe ich die
Krankheitsursache erfragt. Aus seiner und seiner Frau Erzählung habe ich
untrüglich die Symptome erkannt, dass er bald in die Tollwut geraten
werde und an einer entsetzlichen Krankheit, der sogenannten Hydrophobie,
leide. Sofort habe ich Ludwig mit den Sterbesakramenten, nicht ohne
große Kerze, versehen. Kurz darauf ist er ins Koblenzer Krankenhaus
eingeliefert worden. Am siebten Tage ist bei diesem Ludwig und bei
Wilhelm Mohrs die furchtbare Tollwut ausgebrochen, welche nach zwei
Tagen ihren maßlosen Schmerzen in einem dennoch sanften Tod ein Ende
bereitete. Anna Margarete Schwab, die ja schon vom Alter geschwächt war,
war nach einem kurzen Anfall dieser schrecklichen Krankheit schon am 6.
August im Herrn verstorben.
Seit
Menschengedenken hatte man von einem solchen Unglück nicht gehört. Die
Zahl der Wölfe ist schon so groß, dass man nur noch bewaffnet aufs Feld
zu gehen wagt.
Die Menge des
einfachen Volkes setzt bei dieser Krankheit großes Vertrauen in die
Anrufung des hl. Hubertus und in das Brandmahl mit dessen Schlüssel. Die
drei Unglücklichen setzten in gleicher Weise ihre Hoffnung in Anrufungen
und Exorzismen dieser Art. Ein gewisser Ex-Kapuziner aus dem Tal
Ehrenbreitstein leistete diesen Beistand, worüber ich jedoch gerne
hinwegsah, wohl überzeugt, dass dieses Brauchtum ebenso viel Trost wie
zur Genesung beitragen könne. Der traurige Ausgang hat gezeigt, dass
dieses Wundermittel nichts als barer Aberglaube ist.
Dies zur Kenntnis
der nachfolgenden Pfarrherren, welche, so wie auch ihre Pfarrkinder, der
Allerhöchste vor ähnlichem Übel bewahren möge.
Johannes Mathias Geisen,
Pfarrer
Der heute nicht ohne
weiteres verständliche Passus mit dem „Schlüssel“ erhellt sich dem, der
die mittelalterliche Hagiographie kennt.
(Im Kloster Saint
Hubert in den Belgischen Ardennen verehrt man den hl. Hubert (geb. um
66o; Bischof von Maastricht) als Beschützer und Helfer gegen Tollwut.
Zu der Stola des Heiligen, die in der Basilika aufbewahrt wird,
pilgerten seit Jahrhunderten aus dem Rheinland viele Prozessionen. Dort
wurden Gebissene „gestolt“, d. h. es wurde ihnen in die Kopfhaut ein
Fädchen aus der Stola des Heiligen operativ eingepflanzt. In der
Ikonographie wird St. Hubert mit einem Horn und einem Schlüssel
dargestellt. In der Zeit großer Epidemien verlieh das Kloster
ausgewählten Personen „besondere Fakultät und Gewalt samt Schlüssel“.
Von einem solchen Schlüssel (clavis), der erhitzt und mit dem einen Tier
(auf die Stirn) oder beim Menschen (auf den Daumenballen) ein
Hornzeichen aufgebrannt wurde, ist in einer bislang ungedeuteten Stelle
der Rübenacher Urkunde die Rede. Hubertusbruderschaften gab es im
Mittelalter überall: Die heute ganz unvorstellbaren Riten findet der
Interessent beschrieben In: D. Lepique, Der Volksheilige Hubertus in
Kult; legenden und Brauch, Diss. Bonn 1951. – Die Vita von St. Hubertus,
des „Missionars der Ardennen“, gehört zu den interessantesten in der
Heiligengeschichte. (Der Reliquienschrein mit seinen Gebeinen wurde 1568
bei einem Hugenottenüberfall vernichtet.) – Seit dem 11. Jh. Wird St.
Hibert als Patron der Jäger verehrt (Hubertusjagden). Seine Gestalt hat
die Künstler aller Epochen (Pisanello, Dürer, Rogier, Marées u.v.a.) zu
bedeutenden Bilddarstellungen angeregt)
Verglichen mit dem
originalen Tatbestand ist in der Volksüberlieferung die
Tollwutkomponente in merkwürdiger Weise ausgestaltet. Früher war die
Meinung volkläufig, von der Krankheit Befallene würden wie ein Tier
andere wieder beißen; davon kündigen zahlreiche alte Volkserzählungen.
Überdies weiß die Märchen-, Sagen- und Volkstumsforschung – und nicht
nur sie –, dass „das gemeine Volk“ in vielfacher Hinsicht einen Hang zu
Grausamkeiten hat (auch die Moritaten, die in großen Mengen auf
Jahrmärkten goutiert wurden, beweisen es). Die Tollwut war eine
furchtbare Krankheit, die zuweilen epidemisch auftrat (bes. etwa 1830)
und zahlreiche Opfer forderte (z. B. 1905 in Preußen noch 368
Todesfälle). Hier vereinigen sich in Rübenach zu einer durch den Krieg
und viele grausame Geschehnisse gekennzeichnete sowieso schon dunkle
Zeit Tollwut und Wolfsgeschehen in schrecklichen Kulmination.
Der gleiche Tatbestand, den Pastor Geisen
lateinisch zu Papier gebracht hat, begegnet uns noch häufiger. Ein
großer Kenner der Heimatgeschichte des Koblenzer Raumes, Dr. H. Prößler,
berichtet in anderen Zusammenhang:
„Der
Generalkommissar Sack schrieb von Koblenz aus in seinem
Regierungsbericht vom Juli 1815 an seinen Bruder, den Preußischen
Oberpräsidenten Sack in Aachen, dass in seinem Bezirk plötzlich Wölfe
aufgetaucht seien. Am 20. Juli hatte sich nachmittags gegen 4 Uhr in
Winnigen an der Mosel ein Wolf gezeigt, der elf Menschen und mehrere
Tiere auf seinem Wege anfiel. Am Abend gegen 6 Uhr sah ihn der Moskop
aus Rübenach in der Nähe seiner Gemeinde, rief schnell den Bauer Anton
Simons herbei und tötete den Wolf, der schon durch Sensenhiebe verwundet
war.“
Dieser Rübenacher
Wolf nun erscheint in der Chronikenschreibung der Gegend auch noch
anderenorts. Erich Schwamm und Werner Reif, zwei Rübenacher, erinnerten
sich an einen Hinweis, der seinerzeit Anton Hilgert gegeben hatte,
nachdem er vor Jahren anlässlich eines Besuches des Blücher-Museums in
Kaub fündig geworden war. Einmal darauf hingewiesen, ergaben Recherchen
das folgende: Das genannte Museum bewahrt handschriftliche Blätter, die
vermutlich Berichte darstellen, durch die ein beauftragter Untergebener
den in Wiesbaden residierenden General laufend über Geschehnisse aus dem
Koblenzer Raum informierte. Da heißt es dann unter dem 10. August
(1815):

Original der zitierten Seite aus dem
Blücher-Museum, Kaub
„Im vorigen Monathe
hörte man das traurige Ereignis, dass mehrere Menschen von Rübenach,
Güls und Winningen durch Wölfe angefallen und übel zugerichtet wurden.
Ein rüstiger Mann von Rübenach hatte die Stärke und Beherztheit, einen
solchen festzuhalten, der nun von einem ihm mit einem Karste zu Hilfe
geeilten Nachbarn erschlagen und hierher gebracht ward. Man kam bald auf
die Besorgnis, dass dieses Tier möge rasend gewesen sein, welches sich
leider gegenwärtig bestätigt, da schon drei von den Gebissenen
wasserscheu geworden und auf eine elende Weise umgekommen sind.“
(Erste Anzeichen
für Tollwut sind Krämpfe und Nervenlähmungen; dann treten
Schluckbeschwerden auf, weshalb der Kranke trotz übergroßen Durstes
vermeidet, Flüssigkeit zu sich zu nehmen (Hydrophobie); im Volksmund
sagte man bei diesem Stadium: „Er ist bereits wasserscheu geworden“.)
Noch weitere Spuren
hat „der Rübenavher Wolf“ in Amtsdokumenten hinterlassen: Der Geheime
Staatsrat und Oberpräsident der Preußischen Provinzen am Rhein erließ im
Journai für Mittel- und Niederrhein Nr. 92, Bd. VI, 1. August 1815 eine
Bekanntmachung, in der er mitteilte, dass innerhalb 15 Tagen zwei
wütende Wölfe im Rhein- Mosel-Depertement erschienen seien und in den
Kantonen Koblenz und Ahrweiler entsetzliches Unglück angerichtet hätten
... „Der erste Wolf hat sich gegen Abend des 20. Juni in der Gemeinde
Güls bei Koblenz gezeigt. Wie rasend durchschweifte er die Fluren und
biss nach allem, was ihm in den Weg kam, zerriss und biss mehrere Hunde
und hat zehn Menschen fürchterlich verletzt. In Rübenach wurde er durch
den Mut eines Landmannes getötet.“
Wir wissen heute,
dass die Wolfsinvasion („wahrscheinlich durch Kriegsgetümmel
aufgescheucht und durch langes Herumschweifen zur Wut gebracht“ – der
Rübenacher Pastor drückte es ähnlich aus –) 1815 aus den Ardennen und
Vogesen kam und die Rudel sich in der Eifel und Hochwald verirrten: Im
Jahre 1814/15 wurden im Kreis Koblenz 34, Bonn 35, Prüm 77, im Bezirk
Trier allein 159 ( 1817: 114 Stück) Wölfe erlegt, wofür die Regierung
1019 Taler Abschussprämie auszahlte.
Nahezu mit jedem
erlegtem Tier verbindet sich ein kleines Lebensschicksal, eine
Heldentat; da heißt es z.B. in einem amtlichen Bericht (1816): „ ... der
gestalt, daß, nachdem der Förster demselben zum zweitenmale geschossen,
solcher auf ihn wütend loskam und obgleich sich der Förster soviel als
möglich wehrte, der Wolf ihm nicht allein die kupferne Pfeife vorne, wo
der Ladestock durchgeht, entzwei biß, sondern auch die beiden Läufe
durchaus bis zur Unbrauchbarkeit quetschte und trotz allem dem so sehr
auf den Förster zudrang, dass er, da seine beiden Läufe abgeschossen
waren, um Hülfe schreien musste, worauf die herbeieilenden Schützen das
wütende Tier durch einen gut angebrachten dritten Schuß zur Rettung des
Bedrängten endlich hinstreckten“.
Das Schicksal des
Rübenacher Bürgers Ludwig Moskop steht also keineswegs alleine; dennoch:
dass der Kampf mit dem Wolf einem Mann das Leben kostete, ist
verhältnismäßig selten. Immerhin nähme der Ort Rübenach in einer
„Rheinischen Wolfsgeschichte“, die – so interessant sie wäre –
wahrscheinlich nie geschrieben wird, dort ein langes und wichtiges, mit
genauen Namen, Daten und Einzelheiten belegbares Kapitel ein.
Und was schließlich
die Volkspoesie angeht, so ersieht man, wie genau – wenn auch in
anekdotischer Verbrämung – diese sich zu erinnern vermag und wie nach
nahezu 200 Jahren kein wichtiges Detail, von Generation zu Generation
weitergegeben, in Vergessenheit gerät.
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