1942 – Ein Weihnachtsabend mitten im Krieg

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Nicht immer waren die Weihnachtsfeste in Deutschland voller Lichter und überquellender Gabentische. Der Heilige Abend, über den Manfred Mohrs hier erzählt, liegt inzwischen 80 Jahre zurück. Er war damals noch nicht geboren, seine älteste Schwester Hilde (verh. Linden) aber war dabei und hat es ihm im Jahre 2002 erzählt.

… Wir schreiben das Jahr 1942, in Deutschland herrscht seit drei Jahren Krieg, der immer schlimmer wird. Viele Männer können die Geburt Christi nicht zu Hause feiern, sie sind an der Front, irgendwo in Europa. Auch mein Vater kann nicht bei seiner Familie sein. Er ist als Eisenbahnbeamter weit nach Osten in die Ukraine abgeordnet.

In unserem Dorf, das zu dieser Zeit noch sehr landwirtschaftlich geprägt ist, befinden sich viele Kriegsgefangene aus aller Herren Länder, die überwiegend für die Feldarbeit eingesetzt werden. Es besteht ein striktes Verbot, mit ihnen so zusammenzuleben, wie dies unter Menschen normal üblich ist. Dazu zählen auch die Mahlzeiten; Deutsche und Kriegsgefangene dürfen nicht an einem Tisch zusammen essen. Aus Angst vor Repressalien halten sich viele Familien an dieses Verbot.

In unserer Familie wird das Weihnachtsfest vorbereitet. Meine Mutter muss improvisieren, denn viele Dinge, die es in Friedenszeiten zu kaufen gibt, sind nicht oder nur schwerlich zu besorgen. So entschließt sie sich, am Heiligen Abend Kartoffelklöse mit Zwiebelsoße und eine Fleischspeise zuzubereiten.

Es wird ein großer Tisch an diesem Abend sein. Neben meinen beiden Schwestern und meinem Bruder sind es noch vier Soldaten aus der Einquartierung, zwei Infanteristen aus Sachsen und zwei Artilleristen aus Bayern, junge Soldaten mit gutem Appetit.

Aber es sind noch zwei weitere eingeladen, Menschen, die gar nicht am Tisch dabei sein dürften, ein Pole und ein Franzose. Sie sind einem Bauern in unserem Dorf zugeteilt, der aber Angst hat, mit ihnen gemeinsam am Tisch zu sitzen. Meine Mutter hat also beide eingeladen und setzt sich bewusst über Verordnungen und Verbote hinweg. „Schließlich“, so sagt sie, „sind es auch Menschen, Europäer und zudem noch Christen“.

Langsam wird es dunkel und der Heilige Abend bricht an. Alle, die geladen waren, sind gekommen und setzen sich an den großen Tisch in unserem Wohnzimmer. Der Weihnachtsbaum wird angezündet und unsere Familie, die Soldaten , die Kriegsgefangenen, Freund und Feind also, feiern zusammen die Geburt Jesu. An diesem Abend jedoch verwischen sich Freundschaft und Feindschaft, es gibt nur noch Menschen, die einander näher gekommen sind.

Es werden zusammen die Weihnachtslieder gesungen, unsere Familie und die Soldaten aus Bayern und Sachsen singen laut mit. Die ausländischen Gäste, die die deutsche Sprache nur sehr bedingt beherrschen, summen verschiedene ihnen bekannte Melodien mit, die Texte kennen sie nicht. Die Melodie von „Stille Nacht, heilige Nacht“ kennen alle. Dieses Lied hatte schon damals die Kontinente erobert.

Dann wird das Essen aufgetragen, die Soldaten steuern noch einiges von ihren Rationen hinzu. Es wird in unserem Haus ein Heiliger Abend gefeiert, der die Greuel des Krieges für wenige Stunden vergessen lässt. Menschen verschiedener Nationen sind beisammen wie im tiefsten Frieden, ganz so wie das Lukasevangelium es den Menschen nahe legt, die guten Willens sind. Gegen Mitternacht verabschiedet man sich. Alle wünschen sich nochmals eine frohe Weihnacht und vor allem Frieden.

Meine Mutter hat damals dazu beigetragen, dass Menschen von einst verfeindeten Ländern zusammen friedlich Weihnachten feierten, und meine älteste Schwester erzählte mir, dass dieser Heilige Abend im Jahre 1942 einen tiefen und bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen hat.

Anmerkungen:

Meine Schwester Hilde, damals 20 Jahre alt, hat mir diese Geschichte im Dezember 2002 erzählt und ich hielt es für wichtig, dies aufzuschreiben. Meine jüngere Schwester Rosemarie war damals 6 Jahre und mein Bruder Rolf-Dieter 4 Jahre alt.

Von den vier Soldaten hat nur einer den Krieg überlebt, es war der Bayer „Schorschi“. Die beiden Kriegsgefangenen, der Franzose hieß Emile, der Name des Polen ist nicht mehr bekannt, blieben bis 1945 in Rübenach und konnten dann in ihre Heimat zurückkehren.

Für mich ist diese Geschichte eines von vielen Mosaikteilchen, die in meinem Herzen ein Bild meiner Mutter geprägt haben, an das ich mich immer in Liebe, Dankbarkeit und auch mit Stolz erinnern kann.

Manfred Mohrs Rübenach – 24.12.2024



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